Über den sehr gelungenen KI-Versuch von Daniel Kehlmann.
Man darf Daniel Kehlmann unendlich dankbar sein. Denn was dieser hochgeschätzte Autor auf sich genommen hat – und zwar vollkommen angst- und vor allem vorurteilsfrei –, das kann man nicht hoch genug einschätzen. Er hat damit – wie ich finde – unserer Gesellschaft einen wirklich wertvollen Dienst erwiesen. Geht es auch etwas kleiner, mag man fragen. Im Augenblick nicht, halte ich dagegen. Was ist passiert?
Als Schriftsteller wagte sich Daniel Kehlmann an einen einzigartigen Schreibversuch: Im Silicon Valley experimentierte der Autor von „Die Vermessung der Welt“ mit einer Künstlichen Intelligenz. Er versuchte zusammen mit einem KI-basierten Programm namens „Control“ einen oder mehrere Texte zu schreiben. Und zwar keine Lyrik wie in früheren Schreibexperimenten mit einer Künstlichen Intelligenz als Co-Autor, sondern Prosa, eine Erzählung, eine Kurzgeschichte oder zumindest ein Essay. Daniel Kehlmann lieferte dazu meist den ersten Satz, die KI den zweiten, er einen dritten und so weiter. Wir können uns vorstellen: Das Experiment scheiterte. Nach mehreren Runden verlor die KI meist den Handlungsfaden, driftete ins Absurde oder Dadahafte ab oder verfing sich in einer Endlosschleife. Ende der Geschichte.
Wo viele andere wahrscheinlich triumphierend erklärt hätten, dass wir der KI immer noch haushoch überlegen seien, fragte Kehlmann warum das so ist.
Doch darum ging es nicht. Denn wo viele andere wahrscheinlich triumphierend erklärt hätten, dass wir der KI immer noch haushoch überlegen seien, weil sie noch nicht einmal eine kleine Kurzgeschichte aus wenigen Seiten zustande brächte, nutzte Autor Kehlmann die Gelegenheit, um sich zu fragen, warum das so ist: Warum kommt die KI nicht weiter? Und dabei analysierte er, wie Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen funktionierte.
Er zeigte, wie ein solcher Schreibalgorithmus arbeitet. Dass er nämlich auf Basis seiner Trainingssets – in diesem Fall eine Menge von Menschen geschriebener Text, darunter möglicherweise auch einige Bestseller –, also auf Basis seines gelernten Wissens versucht, einen solchen Anschlusssatz zu entwerfen, wie es am wahrscheinlichsten die Menschen getan hätten. Die KI entwickelt Anschlusssätze auf Basis gelernter Wahrscheinlichkeit. Und dabei kommt ihr halt schnell der Kontext abhanden. Nicht mehr und nicht weniger.
Damit stieß Kehlmann an die Frage, ob sich die KI eigentlich darüber bewusst sei. Ob sie wisse, was sie tut. Seine Antwort: Nein! KI hat kein Bewusstsein, also auch kein Innen. Und damit macht er deutlich, was KI ist: Kein Konkurrent zur menschlichen Intelligenz – auch wenn die Bezeichnung dies nahezulegen scheint. Es ist lediglich eine Methode oder ein Verfahren, um in großen Datenmengen Muster zu erkennen und auf dieser Basis Wahrscheinlichkeiten vorherzusagen. Das klappt in unterschiedlichen Bereich unterschiedlich gut: Bei der Vorhersage von Verkäufen im Einzelhandel liegt die Genauigkeit mittlerweile bei über 66 Prozent. Ebenso bei der Vorhersage von Reichweiten in Social Media. Selbst Kenner können mittlerweile nicht zuverlässig zwischen menschlicher Lyrik und solcher von KI unterschieden. Doch beim Schreiben von Kurzgeschichten, da hakt es. Wie wir gesehenen haben.
Fragen nach dem Muster „Entscheidet die KI besser als der Mensch?“ bringen uns echt nicht weiter.
Kehlmann hat damit die Debatte vom Kopf auf die Füße gestellt: Denn während andere Autoren in den letzten Jahren über KI rumgeschwurbelt, orakelt, philosophische Experimente konstruiert, das Thema mit unnötigen ethischen Fragen überhöht haben, erklärt Daniel Kehlmann einfach, wie es funktioniert. Er schafft damit die Grundlage, dass mehr Menschen diese Technologie verstehen, die schon bald zur Basis-Technologie unserer Wirtschaft werden wird.
Das ist wichtig, damit etwa Mediennutzer besser verstehen wie Social-Media funktioniert. Oder damit wir als Bürger über eine höhere Expertise verfügen, wenn wir etwa politisch diskutieren, ob und wie diese Technologie reguliert werden sollte – oder muss. Und dabei bringen uns Fragen nach dem Muster „Entscheidet die KI besser als der Mensch?“ echt nicht weiter. Eher im Gegenteil. Sie führen uns weg von den wirklich entscheidenden Fragen. Was uns dagegen weiterbringt, ist das Verständnis, wie diese Technologie arbeitet. Dafür hat Daniel Kehlmann einen wertvollen Beitrag geleistet – gegen allen Mainstream. Und dafür gebührt ihm Dank.
Seine Erfahrungen und Einschätzungen hat Daniel Kehlmann bei der 1. Stuttgarter Zukunftsrede am 9. Februar 2021 im Stuttgarter Schriftstellerhaus unter dem Titel „Mein Algorithmus und ich“ vorgetragen. Der Vortrag ist in einem gleichnamigen Buch nachzulesen.
Dieser Text wurde in dpr Digital Publishing Report März 2021 erstveröffentlicht. Die Ausgabe kann hier kostenlos heruntergeladen werden: